Die Rolle der Folklore in der mittelalterlichen Kunst
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Folklore war im Mittelalter ein zentraler Bestandteil des kulturellen Lebens und durchdrang alle Schichten der Gesellschaft. Sie repräsentierte mündlich überliefertes Wissen, Traditionen und künstlerische Ausdrucksformen, die von einer bestimmten Gemeinschaft geteilt wurden. In einer Zeit, in der Lesen und Schreiben noch immer einem kleinen Kreis vorbehalten war, diente die mündliche Überlieferung als wichtigstes Mittel zur Bewahrung und Weitergabe des kulturellen Gedächtnisses, moralischer Normen und gesellschaftlicher Werte. Dieses dynamische, sich ständig wandelnde Erbe lebte im Gegensatz zur statischen Autorenliteratur in den Darbietungen der Geschichtenerzähler weiter, die ihre Erzählungen an ein spezifisches Publikum anpassen konnten.
Die mittelalterliche Kunst wiederum erfüllte eine didaktische Funktion und diente als „Bibel für Analphabeten“. Sie sollte komplexe religiöse Dogmen und biblische Geschichten den Massen vermitteln. Das Zusammenspiel dieser beiden mächtigen kulturellen Kräfte – mündlich überlieferte Folklore und visuelle kanonische Kunst – führte zu einer einzigartigen Synthese, in der sich volkstümliche Motive, Bilder und Geschichten in Stein, Holz, Metall und auf den Seiten von Manuskripten widerspiegelten.
2 Bildsprache des Mittelalters
3 Bestiarium aus Stein und Faden: Fabelwesen
4 Heldensagen und moralische Fabeln in Bildform
5 In heilige Stätten gehauene Volksglauben
6 Die Welt von innen nach außen: Marginalien und Misericordia
7 Regionale Manifestationen der Volkstradition in der Kunst
Die Natur der Folklore und ihr mittelalterlicher Kontext
Der Begriff „Folklore“, was so viel wie „Volksweisheit“ bedeutet, wurde 1846 vom englischen Gelehrten William Thoms in die Wissenschaft eingeführt. Ursprünglich bezog sich „Folk“ auf ländliche, oft ungebildete Bauern und „Lore“ auf ihr ererbtes Wissen und ihre Ausdrucksformen. Im Laufe der Zeit wurde diese Definition erweitert und umfasst heute jede soziale Gruppe, die durch gemeinsame Traditionen vereint ist. Mittelalterliche Folklore ist die mündliche Überlieferung, die zwischen dem 5. und 15. Jahrhundert in Europa entstand und weitergegeben wurde.
Im Gegensatz zur Literatur, die aus schriftlichen Texten besteht, wurde Folklore mündlich weitergegeben. Der Erzähler konnte die Geschichte frei verändern und ausschmücken, und die Aufführung selbst war integraler Bestandteil der Erzähltradition. Dadurch wurde Folklore zu einem lebendigen, flexiblen System, das sich an veränderte gesellschaftliche Bedingungen anpassen konnte. Sie diente der Bestätigung kultureller Rituale, der Stärkung moralischer Werte, der Ausübung sozialen Drucks und sogar der psychischen Entlastung, die es den Menschen ermöglichte, den gesellschaftlichen Zwängen zu entfliehen.
In einem Kontext nahezu universellen Analphabetismus war die mündliche Überlieferung der wichtigste Kanal der Massenkommunikation. Deshalb wurde die bildende Kunst zu einer Art „Lehrbuch“ für die Menschen. Die Übertragung von Folklore in Bilder war nicht nur ein dekoratives Mittel, sondern eine Notwendigkeit für die kulturelle Vermittlung. Die Kunst gab der Folklore eine dauerhafte, zugängliche Form, und die Folklore bereicherte die Kunst wiederum mit einem reichen, kulturell bedeutsamen Vokabular, das über die Heilige Schrift hinausging. So entstand eine symbiotische Beziehung: Die Kunst bewahrte die Folklore, und die Folklore nährte die Kunst.
Die soziale Funktion der mündlichen Überlieferung
Folklore, ein kulturelles Phänomen von unten, stellte einen flexiblen Kontrapunkt zum statischen, von oben herab gelenkten Dogma der Kirche und der feudalen Macht dar. Obwohl mittelalterliche Kunst vor allem von der Kirche und dem weltlichen Adel in Auftrag gegeben und finanziert wurde, zeugt die Einbeziehung folkloristischer Elemente vom Dialog zwischen offizieller Kultur und Volksglauben. Die Kunst wurde zu einem Ort, an dem diese beiden Welten aufeinandertrafen – mal harmonisch, mal widersprüchlich.
Künstler und Mäzene erkannten wahrscheinlich, dass die Verwendung vertrauter Bilder und Themen religiöse Kunst zugänglicher und verständlicher machte. Dies ermöglichte eine Brücke zwischen Lehre und Alltag und übersetzte abstrakte theologische Ideen in die Sprache der Populärkultur. So durchdrang Folklore nicht nur die Kunst – sie trug aktiv zur Bildung ihrer Sprache bei und machte sie so wirklich umfassend.
Bildsprache des Mittelalters
Die mittelalterliche europäische Kunst ist eine Synthese aus dem künstlerischen Erbe des Römischen Reiches, den ikonografischen Traditionen der frühen christlichen Kirche und der „barbarischen“ Kultur Nordeuropas. Ihr Hauptziel war die Vermittlung christlicher Wahrheiten und moralischer Lehren an den Betrachter und war daher überwiegend religiöser Natur. Dieser didaktische Charakter prägte ihre wichtigsten Stilmerkmale.
Eines der Hauptmerkmale der mittelalterlichen Kunst ist ihre Ablehnung des für die klassische Antike charakteristischen Naturalismus. Statt die physische Welt getreu abzubilden, konzentrierten sich die Künstler auf die Vermittlung symbolischer und spiritueller Bedeutung. Dies führte zur Entstehung stilisierter, oft langgestreckter Figuren, hierarchischer Kompositionen, bei denen die Größe einer Figur von ihrer Bedeutung abhing, und flacher, oberflächlicher Bilder. Diese künstlerische Sprache eignete sich ideal für Erzählungen, bei denen nicht die äußere Authentizität, sondern die innere Botschaft im Vordergrund stand.
Diese bewusste Abkehr vom Realismus schuf eine Art „symbolisches Vakuum“. Musste ein Bild nicht glaubwürdig sein, konnte es mit beliebigem symbolischen Inhalt gefüllt werden. Folklore mit ihrem reichen Vokabular an Fabelwesen, allegorischen Motiven und nicht-wörtlichen Themen war ideal geeignet, diese Lücke zu füllen. Der stilisierte, abstrakte Charakter der Volkskunst, wie etwa keltische Flechtarbeiten, harmonierte harmonisch mit den antinaturalistischen Tendenzen der frühmittelalterlichen Kunst. Ein Drache oder ein Greif mussten in einer Welt, in der selbst Heilige konventionell dargestellt wurden, nicht „real“ wirken; es genügte, dass sie symbolisch überzeugend waren.
Periodisierung und Stile
Die mittelalterliche Kunst wird traditionell in mehrere große Epochen unterteilt, die jeweils ihre eigenen, einzigartigen Merkmale aufweisen. In der Geschichte der westeuropäischen Kunst lassen sich drei Hauptphasen unterscheiden: die Vorromanik (5. – 9. Jahrhundert), die Romanik (10. – 12. Jahrhundert) und die Gotik (12. – 14. Jahrhundert). Die Vorromanik umfasst Stile wie die Kunst der Völkerwanderungszeit sowie byzantinische, insulare und karolingische Kunst.
Der romanische Stil, der erste gesamteuropäische Stil, war geprägt von massiven Steinkirchen mit dicken Mauern, Rundbögen und üppigem Skulpturenschmuck. Die Gotik, die ihn ablöste, brachte revolutionäre architektonische Neuerungen mit sich: Spitzbögen, Kreuzrippengewölbe und Strebebögen, die den Bau höherer, hellerer Kathedralen mit riesigen Buntglasfenstern ermöglichten. Diese stilistischen Veränderungen spiegelten auch Veränderungen im öffentlichen Bewusstsein wider – von der strengen Monumentalität der Romanik hin zur erhabenen Spiritualität der Gotik.
Ein durchgängiges Merkmal mittelalterlicher Kunst war über alle Epochen hinweg die Verwendung kostbarer Materialien: Gold, Elfenbein, Edelsteine und leuchtende Pigmente. Gold wurde für die Herstellung von Kirchengefäßen, als Hintergrund für Mosaike und als Blattgold in Manuskripten verwendet. Diese Materialien demonstrierten nicht nur den Reichtum des Auftraggebers, sondern symbolisierten auch göttliches Licht, Heiligkeit und den bleibenden Wert des Motivs. Die Verwendung kostbarer Materialien zur Darstellung eines folkloristischen Wesens, wie etwa eines Drachen auf einem goldenen Reliquiar, verlieh dem Volksmotiv Status und Langlebigkeit und rückte es näher an religiöse Ikonen heran. Das Material selbst konnte die Legende heiligen und die Grenze zwischen dem Heiligen und dem Weltlichen verwischen.
Bestiarium aus Stein und Faden: Fabelwesen
Phantastische Tiere aus der Folklore und mittelalterlichen Bestiarien – Sammlungen zoologischer Artikel mit allegorischen Interpretationen – fanden breiten Eingang in die Kunst. Ihre Bilder zierten Manuskriptseiten, Säulenkapitelle, Kathedralenportale und kostbare Wandteppiche. Durch die Brille der christlichen Lehre neu interpretiert, wurden diese Kreaturen zu wirkungsvollen allegorischen Werkzeugen für didaktische und moralisierende Zwecke. Ihre oft mehrdeutige Symbolik ermöglichte die Erklärung komplexer theologischer Konzepte durch lebendige und einprägsame Bilder, die dem einfachen Volk vertraut waren.
Drachen
Der Drache war eines der mächtigsten und am weitesten verbreiteten Wesen der mittelalterlichen Kunst. Sein Bild erscheint in Chroniken, Manuskripten, Skulpturen und Heraldik. Die Symbolik des Drachen war zweifach. Einerseits verkörperte er oft den Teufel, das Heidentum und das Urchaos. In Heiligenbiographien wurde der Drache als Feind der Menschheit dargestellt, der von Glaubenshelden wie dem Heiligen Georg oder der Heiligen Margarete besiegt wurde. Der Sieg über den Drachen symbolisierte den Triumph des Christentums über den heidnischen Glauben bzw. des Guten über das Böse.
Andererseits konnte der Drache ein Symbol für Macht, Weisheit und Schutz sein. In der Heraldik verkörperte er Tapferkeit und Stärke. In illuminierten Handschriften wurden Drachen manchmal als Wächter des „Schatzes des Wortes auf der Seite“ dargestellt, die den heiligen Text beschützten. Ihre gewundenen, flexiblen Körper eigneten sich ideal für die komplexe Verflechtung insularer und romanischer Ornamente und fügten sich nahtlos in die dekorative Struktur der Handschriften ein.
Einhorn
Der Überlieferung zufolge war das Einhorn ein wildes und unbezähmbares Tier, das nur von einer Jungfrau gezähmt werden konnte. Diese Geschichte bildete die Grundlage einer der mächtigsten christlichen Allegorien. Das Einhorn wurde zum Symbol Christi, und seine Gefangennahme durch eine Jungfrau wurde zur Allegorie der Menschwerdung durch die Jungfrau Maria. Die Verletzlichkeit des unbesiegbaren Geschöpfs gegenüber der Reinheit der Jungfrau spiegelte metaphorisch die göttliche Natur Christi in Menschengestalt wider.
Das bekannteste Werk zu diesem Thema ist die Serie der sieben Wandteppiche „Die Jagd auf das Einhorn“. Sie zeigen detailliert den gesamten Zyklus: Jagd, Gefangennahme, Tod und Auferstehung des Tieres, die in direktem Zusammenhang mit der Passion Christi stehen. Die Symbolik des Einhorns war jedoch nicht statisch. Im Laufe der Zeit erhielt das Motiv eine weltliche Bedeutung und wurde zu einer Allegorie der höfischen Liebe. Das gezähmte Einhorn symbolisierte einen verliebten Ritter, der von seiner Dame fasziniert war. Diese Flexibilität des Symbols ermöglichte seine Verwendung sowohl in der kirchlichen als auch in der aristokratischen Kunst.
Greif
Der Greif – ein Fabelwesen mit dem Körper eines Löwen und dem Kopf und den Flügeln eines Adlers – vereinte die Eigenschaften des Königs der Tiere und des Königs der Vögel. Er symbolisierte Mut, Wachsamkeit und Stärke. In der christlichen Kunst wurde seine duale Natur zur perfekten Allegorie für die duale Natur Christi selbst: göttlich (Adler/Vogel) und menschlich (Löwe/Tier).
Aufgrund ihrer Symbolik galten Greifen oft als mächtige Wächter. Ihre Skulpturen wurden an Kirchenportalen und Chören aufgestellt, wo sie den heiligen Raum vor bösen Mächten schützten. Bestiarien beschrieben Greifen als wilde Raubtiere, die einen Stier in ihren Klauen davontragen oder einen Menschen in Stücke reißen konnten – ein Thema, das in einigen Skulpturen aufgegriffen wurde.
So wurden mythische Wesen aus der Folklore zu mehr als bloßen dekorativen Elementen der mittelalterlichen Kunst. Sie waren komplexe allegorische Mittel, die die Visualisierung und Erklärung abstrakter theologischer Lehren ermöglichten. Die Kirche nutzte diese fesselnden Figuren gezielt, indem sie theologische Konzepte in ihre Bilder übersetzte und sie so für ein breites Publikum verständlich und einprägsam machte.
Heldensagen und moralische Fabeln in Bildform
Neben einzelnen mythologischen Bildern griff die mittelalterliche Kunst aktiv auf ganze Erzählzyklen der Folklore zurück. Heldenepen und satirische Fabeln, in Bildsprache übersetzt, dienten als Vorbilder für weltliches und geistliches Verhalten und boten zugleich Raum für allegorische Gesellschaftskritik. Diese im Volk bekannten und beliebten Geschichten bildeten die Grundlage für monumentale Wandmalereien, Buchminiaturen und Schnitzereien.
Artus-Zyklus
Die Legenden von König Artus und den Rittern der Tafelrunde waren ein beherrschendes Thema der weltlichen aristokratischen Kunst. Diese aus der keltischen Folklore stammenden Geschichten verkörperten die Ideale von Ritterlichkeit, höfischer Liebe und feudaler Loyalität. Sie wurden zur mythologischen Grundlage der europäischen Kriegerklasse und boten Vorbilder für Tapferkeit und Ehre. Während die kirchliche Kunst ein Vorbild für das spirituelle Leben lieferte, boten die Artuslegenden ein paralleles Modell weltlicher, höfischer Identität.
Motive aus dem Artus-Zyklus wurden in den unterschiedlichsten Medien dargestellt. Sie schmückten die Wände von Burgen und Schlössern als großformatige Fresken, wie beispielsweise Pisanellos unvollendeter Zyklus in Mantua. Sie finden sich auch als exquisite Miniaturen in illuminierten Handschriften, die vom Adel in Auftrag gegeben wurden. Mit der Darstellung von Turnierszenen, der Suche nach dem Heiligen Gral oder den Heldentaten einzelner Ritter verstärkte die Kunst visuell die soziale Struktur der feudalen Gesellschaft und verwurzelte ihre Werte in einer heroischen, mythischen Vergangenheit, die aus der Folklore stammte.
Der Roman des Fuchses
Ein anderer populärer Folklorezyklus, die „Romanze des Fuchses“, erfüllte eine völlig andere Funktion. Diese Fabeln, deren Hauptfigur der listige und schelmische Fuchs Reinhard war, der andere anthropomorphe Tiere täuschte, verbreiteten sich in ganz Europa. Die Reinhard-Geschichten waren Parodien mittelalterlicher Literatur, insbesondere ritterlicher Romanzen und Heldenlieder, aber auch scharfer Satiren auf politische und religiöse Institutionen. Klerus und Adel waren oft die Hauptzielscheibe des Spotts.
Die Romanze mit dem Fuchs bot ein sicheres Ventil für Kritik an den Mächtigen. Indem sie soziale Laster ins Tierreich übertrugen, konnten Künstler und Schriftsteller subversive Ideen zum Ausdruck bringen, deren direkte Äußerung sonst gefährlich gewesen wäre. In der Kunst erscheint Reinhard am häufigsten am Rand von Manuskripten. Eines der beliebtesten Motive ist ein Fuchs im Mönchsgewand, der zu einer Herde Gänse oder Hühner predigt. Dies war eine direkte und humorvolle Verhöhnung der Heuchelei der Geistlichen, abgemildert durch die allegorische Form und die „marginale“ Platzierung auf der Seite. Ein weiteres häufiges Motiv ist Reinhards Beerdigung, bei der seine Feinde ihn heuchlerisch betrauern und seine unaufrichtige Frömmigkeit verspotten. Somit fungierte dieser Fabelzyklus als legitimes Ventil für sozialen Unmut und ermöglichte es, Zynismus durch Unterhaltung auszudrücken.
In heilige Stätten gehauene Volksglauben
Die Architektur mittelalterlicher Kirchen und Kathedralen ist selbst ein Text, der offizielle Lehren mit volkstümlichen Glaubensvorstellungen verknüpft. Der Skulpturenschmuck an Fassaden, Kapitellen und Innenräumen zeigt oft Bilder aus der vorchristlichen Vergangenheit. Figuren wie der Grüne Mann und die Sheela-na-gig sowie groteske Wasserspeier zeugen davon, wie die Kirche mit kraftvollen folkloristischen Symbolen umging und diese in die Struktur sakraler Bauten integrierte.
Grüner Mann
Der Grüne Mann ist ein Motiv, das ein männliches Gesicht zeigt, das aus Blättern geformt oder von ihnen umgeben ist. Aus seinem Mund, seiner Nase oder seinen Augen wachsen Triebe und Zweige. Dieses Bild findet sich in Kirchen in ganz Europa, von England bis Deutschland. Seine Interpretation ist umstritten. Die gängige Ansicht, die erstmals 1939 von Lady Raglen formuliert wurde, sieht darin ein heidnisches Symbol für Natur, Fruchtbarkeit und Wiedergeburt, das mit alten Vegetationskulten in Verbindung gebracht wird.
Moderne Gelehrte lehnen die Vorstellung, der Grüne Mann sei Ausdruck geheimen heidnischen Widerstands, jedoch grundsätzlich ab. Sie weisen darauf hin, dass diese Bilder zu zahlreich und an prominenten Orten platziert seien, um subversiv zu sein. Wahrscheinlicher ist, dass es sich um ein christianisiertes Motiv handelt. Im christlichen Kontext könnte es mehrere Bedeutungen gehabt haben: In der Römerzeit symbolisierte es die Bedrohung durch dämonische Mächte; später verkörperte es die Auferstehung (im Zusammenhang mit der Legende von Seth, dem Sohn Adams, der den Samen des Baums der Erkenntnis in den Mund seines toten Vaters pflanzte); oder es diente einfach als Erinnerung an die Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens.
Allein die Präsenz solcher Figuren an Kirchen zeugt vom Vertrauen der Kirche in ihre Fähigkeit, mächtige Volkssymbole zu absorbieren, zu neutralisieren und neu zu interpretieren. Dies ist weniger ein Beweis für die Beständigkeit des Heidentums als vielmehr ein Akt symbolischer Eroberung. Der Grüne Mann hört auf, eine Waldgottheit zu sein, und wird zu einem dekorativen Element, das den christlichen Kosmos buchstäblich unterstützt. Der heilige Raum „zähmt“ die Wildheit der Folklore.
Sheila-na-gig
Noch rätselhafter sind die Sheela-na-gigs. Dabei handelt es sich um Steinmetzarbeiten nackter Frauen, die demonstrativ auf ihre übertrieben großen Genitalien hinweisen. Man findet sie vor allem an mittelalterlichen Kirchen in Irland und Großbritannien. Ihre Bedeutung ist noch immer Gegenstand hitziger Debatten.
Es gibt mehrere Haupttheorien. Einer zufolge sind sie eine Warnung vor der Sünde der Wollust. Eine andere betrachtet sie als apotropäisches (böses) Amulett, da der Anblick weiblicher Genitalien dem Volksglauben zufolge den Teufel abwehrt. Eine dritte Theorie bringt sie mit vorchristlichen Fruchtbarkeitskulten oder Muttergöttinnen in Verbindung. Schließlich vermuten einige Forscher, dass es sich um Darstellungen von Volksgottheiten handelt, die die Geburt begünstigen.
Wasserspeier und Grotesken
Wasserspeier und Grotesken sind geschnitzte Figuren fantastischer Kreaturen, Menschen oder Tiere, die die Außenwände von Kathedralen schmücken. Wasserspeier dienen als Dachrinnen und leiten Regenwasser von den Wänden des Gebäudes ab, während Grotesken rein dekorative Elemente sind. Ihre furchterregenden, bizarren und komischen Formen haben ihre Wurzeln im Volksglauben.
Man glaubte, diese Kreaturen verfügten über apotropäische Kräfte und die Fähigkeit, böse Geister abzuwehren und so die Kirche und ihre Bewohner zu schützen. Wasserspeier veranschaulichen somit die praktische Verschmelzung von Volksmagie und christlicher Architektur. Die Kirche verurteilte zwar offiziell Magie, war in der Praxis jedoch pragmatisch genug, schützende Volkstraditionen zu integrieren, die bei den Gemeindemitgliedern Anklang fanden, und stellte sie als Wächter des heiligen Ortes dar.
Die Welt von innen nach außen: Marginalien und Misericordia
Jenseits der monumentalen Kunst fand Folklore in „inoffiziellen“ Räumen eine einzigartige Heimat – in den Rändern von Manuskripten und auf versteckten geschnitzten Elementen von Kirchenmöbeln. Diese abgeschiedenen Ecken boten Künstlern und Schnitzern die Freiheit, sich mit Humor und Parodie zu beschäftigen und Szenen aus dem Alltag darzustellen. Sie öffneten ein Fenster in die Welt der mittelalterlichen Volksvorstellung.
Handschriftliche Marginalien (droleri)
Die Ränder mittelalterlicher Handschriften, insbesondere des 13. und 14. Jahrhunderts, sind oft mit skurrilen, humorvollen und manchmal obszönen Zeichnungen gefüllt, die als Drolerien (vom französischen „drôlerie“, was „Spaß“ oder „Exzentrizität“ bedeutet) bekannt sind. Diese Bilder hatten typischerweise keinen direkten Bezug zum eigentlichen, heiligen Text auf der Seite. Sie boten Schreibern und Buchmalern Raum für kreative Freiheit.
Eines der zentralen Themen der Marginalien war die „verkehrte Welt“ (monde renversé) – ein beliebtes folkloristisches Motiv, in dem soziale und natürliche Hierarchien auf den Kopf gestellt wurden. Die Ränder der Manuskripte zeigen Szenen von Hasen und Kaninchen, die Menschen jagen, bewaffneten Rittern, die gegen Schnecken kämpfen, und Tieren, die menschliche Aktivitäten parodieren, wie etwa das Spielen von Musikinstrumenten oder die Organisation von Trauerzügen.
Diese Bilder verkörperten das mittelalterliche Karnevalskonzept, das auch bei Volksfesten wie dem Narrenfest präsent war. Die Ränder heiliger Texte wurden zu einem freien Raum für Parodie, Chaos und die vorübergehende Aufhebung von Hierarchien. Die Zeichnungen von Killerkaninchen waren keine zufälligen Kritzeleien, sondern visueller Ausdruck einer tief verwurzelten Volkstradition der Karnevalsumkehr, die inmitten einer starren Gesellschaftsordnung psychologische Entspannung bot. Die Manuskriptseite wurde so zu einem Mikrokosmos der mittelalterlichen Gesellschaft: ein heiliges Zentrum, umgeben von „Karnevals“-Feldern, auf denen Regeln vorübergehend außer Kraft gesetzt wurden.
Barmherzigkeit
Misericordia (vom lateinischen misericordia, „Barmherzigkeit“) sind kleine Holzbretter auf Klappsitzen in Kirchenchören, die Mönchen und Geistlichen während langer Gottesdienste Halt geben. Da diese geschnitzten Elemente bei heruntergeklappten Sitzen nicht sichtbar waren, hatten Holzschnitzer große gestalterische Freiheit. Die Motive auf Misericordia sind oft eher humorvoll als fromm.
Sie zeigen Szenen aus dem Alltag (eine Frau, die ihrem Mann an den Haaren zieht), Illustrationen von Sprichwörtern und Fabeln, Darstellungen von Handwerkern bei der Arbeit sowie Fabelwesen und groteske Figuren. Misericordia bieten einen seltenen, ungefilterten Einblick in das „Volksleben“. Sie sind ein offiziell anerkanntes, aber verborgenes Archiv der Populärkultur im Herzen eines heiligen Raumes. Sie dokumentieren die alltäglichen Sorgen, den Humor und die Weisheit der einfachen Leute, die in der Kunst und in schriftlichen Quellen der Elite oft fehlen.
Regionale Manifestationen der Volkstradition in der Kunst
Die Interaktion zwischen Folklore und kanonischer Kunst verlief in ganz Europa unterschiedlich. Verschiedene Regionen entwickelten einzigartige Bildsprachen, die lokale mythologische Traditionen und den historischen Kontext ihrer Begegnung mit dem Christentum widerspiegelten. Ein Vergleich keltischer, skandinavischer und slawischer Kunst offenbart ein Spektrum kultureller Synthesemodelle – von tiefgreifender Integration über anhaltende Bewahrung bis hin zu subtiler Beeinflussung.
Inselkunst (keltische Kunst)
In Irland und Großbritannien kam es zu einer tiefgreifenden Verschmelzung vorchristlicher keltischer Motive mit christlichen Themen, die einen einzigartigen insularen oder hiberno-sächsischen Stil hervorbrachte. Hier verschönerten alte ornamentale Traditionen nicht nur die christliche Kunst, sondern wurden zu ihrer grundlegenden Grammatik.
- Das Book of Kells : Dieses Meisterwerk der Buchillustration ist ein eindrucksvolles Beispiel für eine solche Synthese. Die Seiten des Evangeliums sind mit komplizierten Mustern aus keltischen Knoten, Spiralen und zoomorphen Verflechtungen bedeckt, die als dekorativer Rahmen für den heiligen Text dienen. Die Handschrift ist zudem reich an Tiersymbolik: Schlangen stehen für die Auferstehung und Pfauen für die Unsterblichkeit und verbinden so die christliche Interpretation mit älteren Glaubensvorstellungen.
- Irische Hochkreuze : Diese monumentalen Steinkreuze, die ab dem 9. Jahrhundert errichtet wurden, sind ein weiteres Beispiel kultureller Fusion. Sie kombinieren die Form des christlichen Kreuzes mit dem heidnischen Symbol des Kreises (der die Sonne oder Ewigkeit darstellt). Die Oberflächen der Kreuze sind mit Schnitzereien bedeckt, in denen biblische Szenen abstrakten keltischen Motiven gegenübergestellt werden. Diese Kreuze dienten als öffentliche Denkmäler des neuen, synkretistischen Glaubens.
Skandinavische Kunst
In Skandinavien, insbesondere in Norwegen, erfolgte die Christianisierung später, und heidnische mythologische Themen blieben länger relevant. Die Kunst dieser Region zeigt weniger eine Verschmelzung als vielmehr ein Nebeneinander und eine Gegenüberstellung heidnischer und christlicher Motive.
- Stabkirchen : Norwegens einzigartige Stabkirchen zeugen von diesem kulturellen Dialog. Ihre geschnitzten Portale sind oft mit Szenen aus der nordischen Mythologie verziert, die neben christlichen Symbolen platziert sind. Das berühmteste Beispiel ist das Portal der Stabkirche in Hylestad, das die Legende von Sigurds Sieg über den Drachen Fafnir aus der Völsunga-Saga detailliert darstellt. Diese Gegenüberstellung von heidnischem Epos und christlicher Kirche spiegelt eine Zeit des kulturellen Wandels wider.
- Runensteine : Auch Gedenksteine aus der Wikingerzeit zeigen oft Motive aus der nordischen Mythologie. Sie zeigen den Gott Thor beim Fang der Weltenschlange Jörmungandr, Odin, der während der Ragnarök vom Wolf Fenrir verschlungen wird, und Szenen aus der Sigurdsaga. Diese Steine dienten dem Gedenken an die Vorfahren und ihre Taten und appellierten an eine gemeinsame heroische Vergangenheit, die tief in der Mythologie verwurzelt ist.
Slawische Traditionen
In der Kunst der slawischen Völker war der Einfluss des vorchristlichen Heidentums subtiler, aber strukturell bedeutsam. Nach der Christianisierung der Rus wurden heidnische Götzenbilder zerstört, doch Elemente der antiken Kosmologie und Ästhetik blieben erhalten und wurden in die orthodoxe Kultur übernommen.
- Volkskunst und Folklorefiguren : So lebendige Folklorefiguren wie Baba Jaga, das mehrdeutige Bild der Hexenvorfahrin, lebten in der Volkskunst weiter, beispielsweise in populären Drucken.
- Architektur : Einige Forscher glauben, dass Elemente der vorchristlichen Weltanschauung die Architektur russisch-orthodoxer Kirchen beeinflusst haben. Formen wie Zwiebeltürme und Walmdächer könnten ihre Wurzeln in der antiken slawischen Holzarchitektur und heidnischen Heiligtümern haben. In diesem Fall manifestierte sich der Einfluss der Folklore nicht in spezifischen ikonografischen Motiven, sondern in tieferen, strukturellen Formen.
Ein Vergleich dieser regionalen Traditionen offenbart kein einheitliches Modell der Interaktion zwischen Folklore und offizieller Kunst. Vielmehr zeigt sich ein breites Spektrum – von der tiefen Integration in der keltischen Kunst über die direkte Gegenüberstellung in der skandinavischen Kunst bis hin zu einem subtileren, sublimierten Einfluss in der slawischen Kunst. Diese Unterschiede waren durch die einzigartigen historischen und kulturellen Bedingungen jeder Region bedingt und verdeutlichen die vielfältigen Wege, auf denen die Volkstradition ihren Platz in der großen visuellen Erzählung des Mittelalters fand.
Letztlich war Folklore mehr als nur eine Quelle für Themen der mittelalterlichen Kunst. Sie war eine lebendige Kraft, die ihre Sprache prägte, ihre Symbolik bereicherte und ihre Verbindung zu breiten Bevölkerungsschichten sicherte. Von majestätischen Kathedralen bis zu den bescheidenen Rändern von Manuskripten, von Heldenepen bis zu amüsanten Fabeln durchdrang Folklore die visuelle Kultur der Epoche und schuf ein komplexes und dynamisches Gefüge, in dem Glaube, Mythos und Alltag miteinander verwoben waren.
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